China-Experten haben bei der Rede von Staats- und Parteichef Xi Jinping anlässlich des 19. Kongresses der Kommunistischen Partei im Herbst vergangenen Jahres mitgezählt. Während der Machthaber den Begriff «Umwelt» 89-mal in den Mund nahm, erwähnte er das Wort «Wirtschaft» nur 70-mal. Xi hatte 2049 im Blick, wenn die Volksrepublik ihren 100. Geburtstag feiern wird. Spätestens dann sollen seine Landsleute ein glücklicheres, sichereres und gesünderes Leben als bis anhin führen.
Picture: Smogverschmutzung durch Industrieanlagen
Die Narben des Raubbaus
Damit diese anspruchsvollen Vorhaben verwirklicht werden, muss das Reich der Mitte in den kommenden Jahren seine Wirtschaftsstruktur umbauen. Der wirtschaftliche Aufstieg des Landes basierte in den vergangenen vier Jahrzehnten auf zwei Pfeilern: Hohe Investitionen sowie ein riesiges Heer an billigen Wanderarbeitern, die Produkte für den Rest der Welt herstellten, waren die treibenden Faktoren. Wachstum stand über allem.
Die Chinesen müssen für dieses Modell jedoch einen hohen Preis zahlen. Auf die Umwelt ist keine Rücksicht genommen worden. So hat laut Schätzungen China allein 2014 vier Milliarden Tonnen Kohle verfeuert – so viel wie der Rest der Welt zusammen. Der Energieträger ist für die Luftverschmutzung sowie für den Ausstoss von Treibhausgasen massgeblich verantwortlich.
In der nordöstlichen Region von Hebei, Peking und Tianjin, die mit ihren 120 Millionen Bewohnern zu dem Gebiet Jing-Jin-Ji zusammengefasst werden sollen, liegt die Luftverschmutzung noch immer weit über den Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Der jährliche Durchschnittswert für den PM-2,5-Index – diese Partikel sind besonders gefährlich, weil sie in die Blutbahn gelangen können – beläuft sich für die Region noch immer auf rund 90 Mikrogramm je Kubikmeter Luft. Die WHO empfiehlt dagegen, dass der Index im jährlichen Durchschnitt die Schwelle von 10 Mikrogramm pro Kubikmeter nicht überschreiten sollte.
Und im weltweiten Vergleich rangiert China beim absoluten Kohlendioxidausstoss seit Jahren an der Spitze; berechnet man diesen Wert pro Kopf, fällt China in dem Ranking dagegen weit zurück. Die entwickelte Welt hat darin ihren Anteil. Sie hat durch die Auslagerung von Produktionsstätten einen Teil ihres Kohlendioxidausstosses in das asiatische Land exportiert.
Noch schlechter ist es um Wasser und Böden bestellt. So leidet China unter einer ungleichen Verteilung von Wasser. 80 Prozent der Ressource befinden sich im Süden; allerdings wohnt jeder zweite Chinese im Norden. Peking sowie Tianjin steht nicht viel mehr Wasser zur Verfügung als Saudiarabien. Laut Schätzungen sind 85 Prozent der zentralen städtischen Wasserläufe verschmutzt. Für das getestete Grundwasser, dessen Pegel in manchen Gegenden stark sinkt, beläuft sich der Wert auf 80 Prozent – verseucht durch industrielle Produktion, Düngemittel und Pestizide. Die Chinesen misstrauen denn auch dem Leitungswasser. Sie kaufen stattdessen in Plastikflaschen abgefülltes Wasser.
Für den Abfall gibt es jedoch kein Entsorgungs- oder gar Pfandsystem. Wegen des unachtsam weggeschmissenen Mülls wird die Umwelt zusätzlich belastet. Erschwerend kommt hinzu, dass durch die von der Regierung vorangetriebene Urbanisierung Flüsse und Feuchtgebiete trockengelegt werden. Es wächst die Gefahr, dass Fluten in den Städten Schäden anrichten.
Die Chinesen haben noch einen langen Weg vor sich, bis sie – unabhängig von ihrem Einkommen – gute Luft atmen, sauberes Wasser trinken und gesunde Nahrungsmittel essen können.
Genauso dramatisch ist der Zustand der Böden. Laut der Food and Agriculture Organization of the United Nation (FAO) ist ein Fünftel der landwirtschaftlichen Nutzfläche verseucht – mit ernsthaften Konsequenzen für die Konsumenten, weil sie vergiftete Nahrungsmittel zu sich nehmen. Andere Quellen gehen davon aus, dass jährlich zwölf Millionen Tonnen an kontaminiertem Getreide vernichtet werden müssen. Die Experten der Website China Dialogue beziffern die Verluste für die Landwirtschaft auf 20 Milliarden Yuan, was annähernd 3 Milliarden Franken entspricht.
Vor dem Hintergrund solcher Zahlen ist eine Reform des Wirtschaftsmodells unabdingbar. China will durch den im Westen kritisch unter die Lupe genommenen industriepolitischen Ansatz «Made in China 2025», den der amerikanische Vizepräsident Mike Pence jüngst wieder harsch kritisiert hat, sowie durch die vielen innovativen Privatunternehmen, die das Rückgrat der Wirtschaft bilden, den Wohlstand mehren, ohne dass das Wachstum weiter zulasten der Umwelt geht.
Xi ist sich bewusst, dass er seinen Landsleuten bessere Umweltbedingungen bieten muss, sonst könnte der Unmut der Kommunistischen Partei eines Tages gefährlich werden. Mit steigendem Wohlstand verändern sich die Präferenzen der Chinesen. Sie sehnen sich nach einem gesünderen Leben und wollen ihren Kindern jene Zustände ersparen, unter denen sie einst gelitten und die das Bild Chinas im Ausland geprägt haben. Bei dem sensitiven Thema ist mit ihnen nicht länger zu spassen, wie Proteste immer wieder zeigen.
Picture: Luftverschmutzung in Shanghai 2020, Schiffe im Vordergrund
Gut Ding will Weile haben
In den vergangenen Jahren ist punkto Umweltschutz zwar bereits viel passiert. Da die Umwelt jedoch stark unter dem bisherigen Raubbau gelitten hat, haben die Chinesen noch einen langen Weg vor sich, bis sie – unabhängig von ihrem Einkommen – gute Luft atmen, sauberes Wasser trinken und gesunde Nahrungsmittel essen können.
Vor allem Erfolge bei der Luftreinhaltung und im Kampf gegen den Klimawandel stechen hervor. Peking hat bei den Verhandlungen vor drei Jahren in Paris versprochen, dass ab 2030 der Kohlendioxidausstoss sinken wird. Berechnungen deuten darauf hin, dass China den Höhepunkt bereits erreicht haben dürfte und der Ausstoss spätestens ab 2025 sinken wird. Zudem soll 2030 der Kohlendioxidausstoss gegenüber dem Basisjahr 2005 bei der Erzeugung einer Einheit Wirtschaftsleistung um bis zu 65 Prozent zurückgehen.
Und auch die Bedeutung der Kohle als Primärenergieträger wird weiter abnehmen. Ihr Anteil verringerte sich zwischen 2000 und 2017 bereits um 8 Punkte auf 60 Prozent. Parallel dazu soll der Anteil nichtfossiler Energiequellen von 12 Prozent im Jahr 2012 auf 20 Prozent 2030 zulegen. Allein die installierten Kapazitäten erneuerbarer Energien haben sich seit 2015 von 470 Gigawatt auf 648 Gigawatt Ende März dieses Jahres erhöht. Im weltweiten Vergleich nimmt China bei den installierten Kapazitäten erneuerbarer Energien die führende Rolle ein. Zum Energiemix zählt auch Atomenergie, um weniger stark von Kohle abhängig zu sein. China hat in den vergangenen Jahren die Forschung vorangetrieben und hält bei der Technologie die Spitzenposition.
Auch auf anderen Feldern drückt Peking aufs Gaspedal – wie etwa bei der Elektromobilität. Bis 2025 soll jeder fünfte verkaufte Personenwagen alternative Antriebstechnologien verwenden; im vergangenen Jahr belief sich dieser Wert auf gerade einmal 3 Prozent. Die Rating-Agentur Moody's ist überzeugt, dass China das ehrgeizige Ziel erreichen wird. Chinas Regierung werde an den richtigen Knöpfen drehen, um Angebot sowie Nachfrage zu beeinflussen, schreibt Moody's. In China gibt es im Vergleich mit den entwickelten Volkswirtschaften noch relativ wenige Personenwagen pro Kopf, und schliesslich werden wegen der steigenden Produktionszahlen sowie des technischen Fortschritts Elektroautos bald erschwinglicher werden. Derzeit sind 40 Prozent der weltweit 3,1 Millionen Elektroautos auf Chinas Strassen unterwegs; drei von vier der im vergangenen Jahr verkauften 1,15 Millionen Elektroautos wurden von Chinesen erworben.
Auch bei der Gesetzgebung hat Peking aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. War es für Umweltsünder einst billiger, gegen bestehende Auflagen zu verstossen, als diese zu befolgen, sollen diese Zeiten der Vergangenheit angehören. Die Grundlage dafür bilden die 2015 und 2017 überarbeiteten Gesetze zur Luft- und Wasserverschmutzung. Zudem tritt im Januar kommenden Jahres ein Gesetz zum Schutz der Böden in Kraft, bei dem die Prävention im Vordergrund steht. Darin werden Anregungen – etwa durch Steueranreize oder durch die Bereitstellung von Krediten – präsentiert, um Private für Investitionen zur Säuberung kontaminierter Flächen zu gewinnen.
Peking ist sich bewusst, dass der Steuerzahler allein diese Herkulesaufgabe nicht stemmen kann. Für die Ressource Wasser fehlen bis jetzt solche marktwirtschaftlichen Ansätze. 2011 lag in China der durchschnittliche Preis pro Kubikmeter Wasser bei einem Viertel des weltweiten Niveaus. Wasser ist zu billig, weshalb Landwirtschaft und Industrie, die für 85 Prozent des Verbrauchs verantwortlich sind, keine Anreize haben, in effizientere Produktionsanlagen zu investieren. Peking schreckt jedoch davor zurück, die Preise zu erhöhen, weil sonst Proteste der Bevölkerung sowie der Industrie und der Landwirtschaft zu erwarten sind.
Wenn Chinas Partei- und Staatsspitzen ihre ehrgeizigen Vorhaben bis 2050 verwirklichen wollen, müssen sie mehr den Marktkräften vertrauen. Der Preismechanismus und nicht die Kommunistische Partei kann wahre Wunder bewirken.
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